Es ist der letzte Abend. Wir fahren mit dem Bus aus dem Zentrum von Santiago in Richtung Süden. Die Wohngebiete bekommen, je mehr wir uns dem Rand der Stadt nähern, ein immer ärmlicheres Gepräge. Kaum geraten schließlich die letzten Baracken außer Sicht, taucht im Abendlicht eine Mauer am Straßenrand auf, deren enorme Höhe kaum einen Blick, geschweige denn ein Eindringen in das Innere des Raumes zulässt. Einige Kilometer fahren wir an diesem Wall entlang, bis ein gewaltiges schmiedeeisernes Tor den Einlass ermöglicht, der uns von einem Wächter, der über unser Kommen informiert ist, gewährt wird.
Langsam rollt der Bus über den schmalen Schotterweg durch die gepflegten Rebflächen, die sich hektarweit innerhalb des Mauerwerks erstrecken. Eben noch die Armenviertel auf der Netzhaut, schiebt sich jetzt ein schmuckes Landgut in den Blick. Umgeben von einem Park mit altem Baumbestand, eingebettet in die Rebfelder erwartet uns mit offenen Türen Viñedo Chadwick.
Wir verlassen den Bus und schlendern etwas schüchtern über den Kies dem Eingang des Landgutes zu. Ein wenig abseits fällt der diskret hinter einem Gebüsch geparkte Wagen des Hausherrn auf, der – so sein Hersteller – in souveräner Manier Sportlichkeit und Vielseitigkeit verbindet und hoch entwickelte Technik mit dem Luxus der Oberklasse zusammenbringt. Wohin mit der nach dem Aussteigen aus dem Bus und nun zu Ende gerauchten Zigarette? Kiesweg und Rasen sind so gepflegt, dass Fallenlassen und Austreten wie ein kleines Verbrechen erscheinen. Und den Hausherrn mit einem ausgedrückten oder noch brennenden Stummel in der Hand zu begrüßen, verbieten die Umgangsformen. Also unauffällig hinters nächste Gebüsch, mit dem Fuß ein wenig Erde auflockern, den Torso in die Mulde fallen lassen und zuscharren.
Die Sauberkeit aller öffentlichen Plätze und Parkanlagen in Chile macht es dem reinlichen Raucher nicht leicht, seine Filter zu entsorgen. Hinzu kommt wie ein drohender Zeigefinger die Abbildung auf der Zigarettenschachtel: ein Mann, der von sich behauptet Chilene zu sein und Jahrzehnte intensiv geraucht zu haben, starrt einen mit vom Krebs zerfressenen Lippen und Mundschleimhäuten zahnlos an. Sieht aus wie ein Kriegsversehrter, dem ein Geschoß den Unterkiefer weggerissen hat.
Als letzter der Gruppe am Eingang des Landguts werde ich von Eduardo Chadwick mit Handschlag herzlich willkommen geheißen. Ein schlanker, sportlich locker, aber gepflegt gekleideter, grau melierter dunkelhaariger Mann Anfang fünfzig, der perfekt zu dem Auto passt, das er fährt. Der am zu Ende gehenden Tag abgerissene Knopf an der einen Spitze des offen getragenen Kragens seines weißen Hemdes gibt seiner so perfekten Erscheinung ein lockeres und sympathisches Understatement.
Eduardo Chadwick bei der Erläuterung der Bodenformation als Grundbedingung für die hohe Qualität von Viñedo Chadwick.
Bevor zum Abendessen an die stilvoll eingedeckten Tische auf dem Rasen im Park direkt am kreisrunden Schwimmbecken gebeten wird, erfolgt der gemeinsame Spaziergang durchs Weingut. Viñedo Chadwick ist das Weingut im Besitz von Eduardo, das für ihn am meisten die Anwesenheit seines verstorbenen Vaters atmet. Es ist das Vermächtnis des Vaters.
Die beiden schlankzylinderigen Begrenzungen des Polotores am Rand des ehemaligen Polofeldes, das längst zu einem Rebfeld geworden ist, die schon lange leer stehenden Stallungen der Polopferde hinter dem Landgut und die kleine Hall of Fame des Vaters in einem Nebengebäude, in der unzählige Pokale, Siegerlisten und Fotografien von Poloturnieren präsentiert werden, vergegenwärtigen Vater Alfonso, den großen Polospieler, aber auch Großwildjäger, Geschäftsmann und Winzer, der seinem Sohn den Rat gab, sich entweder auf den Sport oder den Beruf zu konzentrieren, da beides – ernst genommen - in neueren Zeiten nicht mehr vereinbar sei. Eduardo ist nach eigenem Bekunden diesem Diktum gefolgt und hat gerade erst neben der kleinen Ruhmeshalle des Vaters seinen eigen Raum eingerichtet, der seinen größten Erfolg als Winzer zur Schau stellt und die Erfüllung seines Wunsches dokumentiert, ein solcher zu werden wie sein Vater einer gewesen ist.
Zeigt in des Vaters Showroom eine Fotografie Alfonso Chadwick mit Prinz Philipp, den Gemahl von Queen Elisabeth, nebeneinander als Mitglieder einer Mannschaft bei einem Poloturnier in Chile im Jahr 1968 (!), so illustriert des Sohnes Showroom Eduardos größten Erfolg als Winzer im Jahre 2004: das so genannte „Berlin-Tasting“. Was in Berlin um 1968 passierte, wissen viele; 2004 hat Eduardo vierzig der wichtigsten Wein-Journalisten, -Kritiker und –Einkäufer Zentraleuropas zu einer Blindverkostung nach Berlin eingeladen. Zur Probe standen neben den größten Weinmonumenten aus Bordeaux und Toskana Eduardos Top-Weine (Errazuriz,Viña Seña, Viñedo Chadwick) der gleichen Jahrgänge und - was für ein Erfolg! – Viñedo Chadwick 2000 konnte die meisten Punkte auf sich vereinigen, noch vor Chateau Lafitte und Chateau Margaux 2000. Eduardo hat 2004 in Berlin sein erstes großes Turnier gewonnen und gezeigt, dass die chilenischen Weine qualitativ in der Weltspitze angekommen sind.
Der Sieger des Berlin-Tastings 2004. Noch während der Vermarktung dieses Jahrgangs hat Eduardo das Etikett des Weines verändert. In seinem Showroom (unser Bild) liegt noch ein Beispiel der ursprünglichen Gestaltung, die auch für den ersten Jahrgang des Weines (1999) üblich ist. In der Raute im unteren Teil des Etiketts ist der Jahrgang verzeichnet. Der wandert in die Mitte des Labels und wird von dem Emblem eines Polospielers auf seinem Pferd, also dem Emblem des Gedenkens an den Vater abgelöst.
Beispiel für die neue Gestaltung des Etiketts: der Polospieler auf dem Pferd in der Raute.
Später bei Tisch, die perfekte Gastgeberschaft Eduardo Chadwicks, warmherzig und freundlich, Konversation in britischer Gelassenheit über die Integration neuer Solartechnologie bei der geplanten Vergrößerung von Viña Errazuriz; über die Lagerfähigkeit großer chilenischer Weine im Verhältnis zu Bordeaux; ob die Bordeaux-Weine beim Berlin-Tasting nicht zu jung und verschlossen waren; ob die Juroren mit ihrer Erfahrung nicht von vornherein zwischen den Provenienzen der Weine blind unterscheiden könnten und entsprechend ihrer stilistischen Vorliebe dann entschieden; das Ergebnis also vorab von der Zusammensetzung des Verkostungsteams abhänge; über Tennis und die Bergsteigerei…..
Und zur Käseplatte dann Viñedo Chadwick 2001. Eine deutlich spürbare Steigerung in Harmonie und Eleganz, Tiefe und Länge zum vorher getrunkenen kraftvollen Errazuriz Founders Reserve 2003. Aber in der frischen Luft, bei Käse und Konversation, fehlt die rechte Aufmerksamkeit, um die Größe dieses Weins richtig wert zu schätzen.
Kurz vor Mitternacht versammeln wir uns zum Abschluss des Abends im Salon. Nirgendwo ein Aschenbecher zu entdecken. Eduardo überreicht jedem ein persönlich gewidmetes Buch über renommierte Winzerfamilien der internationalen Weinwelt, in dem er und seine Familie Chile repräsentieren. Nun ist die Bedeutung der Familie als Keimzelle unternehmerischer Aktivität im patriarchalisch-katholischen Chile sicherlich besonders ausgeprägt. Die meisten der besuchten Weingüter wären ohne den starken Zusammenhalt der Eigentümerfamilien nicht so erfolgreich, auch wenn die jeweils verantwortlichen Önologen nicht zum Familienverband gehören, wie bei Errazuriz oder de Martino. Aurelio Montes wirbt sogar damit, dass er zugleich als Besitzer und Önologe dem von ihm begründeten Familienunternehmen vorsteht. Nicht wenige Winzer schauen zudem stolz auf ihre zum Teil über hundertjährige Geschichte zurück, in deren Verlauf einige ihrer Mitglieder in der Politik, Wirtschaft und Kirche Chiles bedeutende Positionen innehatten, und das häufig, bevor sie überhaupt Weinberge anlegten. Denn es waren die im 19. Jahrhundert in wichtigen gesellschaftlichen Bereichen erfolgreichen Familien, die mit Blick auf Europa und seine Lebensformen auch Weingüter gründeten.
Auffallend auch die enorme Größe der Weingüter, die in der Folge des gewaltigen Exporterfolges des letzten Jahrzehnts durch Neubepflanzungen teilweise tausend Hektar erreichen. So hat etwa Viña Edwards vor fünf Jahren einen ganzen Berg in bester Exposition mit einer Fläche von 120 Hektar(!) komplett gerodet und nach eingehender Analyse der Unterlagenböden mit unterschiedlichen Rebsorten bepflanzt, der nächstes Jahr zum ersten Mal in die Ernte eingeht. Die billigen Arbeitskräfte auf dem chilenischen Markt machen die Expansion auch in diese Steillagen mit der entsprechenden Qualität möglich, denn mit Maschinen lässt sich dort gewiss nicht arbeiten. Die Familien entwickeln sich so zu Großgrundbesitzern, die je nach Bedarf mühelos für kleines Geld auf jederzeit bereitstehende Landarbeiter zurückgreifen können. Die hohe Mauer um Viñedo Chadwick und die Türme auf Errazuriz zur Bewachung des Weinguts und der oberhalb gepflanzten Avocadobäume signalisieren das starke soziale Gefälle im Lande.
Antwort auf die Frage, wie der chilenische Arbeiter im Weinberg zur Arbeit kommt
Nach Deutschland zurückgekehrt, gleich am ersten Abend ins Internet auf der Suche nach Viñedo Chadwick 2000, den ich nur zu gern auch kennen gelernt hätte, doch nirgendwo ein Angebot zu finden. Der Repräsentant von Errazuriz in Europa bestätigt in einem Telefonat am Folgetag, dass dieser Wein nicht mehr zu haben sei und selbst er ihn nie getrunken habe. Kann man also vergessen! Eine Woche später bei dem Besuch der Filiale einer deutschen Großmarktkette anlässlich des Einkaufs jeder Menge Süßigkeiten für die Patenkinder die übliche Stippvisite in der Abteilung für gehobene Weine zum Zweck eines groben Überblicks aufs Sortiment. Und was für ein schöne Fügung: da liegen glatt 8 (!) Flaschen Viñedo Chadwick 2000 zu einem Preis, der nie nachkalkuliert wurde und der den Entschluss, sie auf der Stelle mitzunehmen, federleicht macht. Mal wieder mit dem Sein im Einklang!
Weitere vier Wochen später ergibt sich die Gelegenheit, eine erste Flasche zu testen, zusammen mit den Mitarbeitern zu einer Lammkeule. Wir trinken zunächst Kaiken Ultra Cabernet Sauvignon 2005 von Aurelio Montes, den in Mendoza/Argentinien produzierten Wein des chilenischen Winzers, den wir im Vorfeld gemeinsam ausgesucht haben und der uns alle schön zufrieden stellt. Gegen Ende des Mahls präsentiere ich den eine Stunde zuvor geöffneten, nicht dekantierten Viñedo Chadwick 2000 aus der Flasche im Flaschenstrumpf (Cachottier) blind. Der Kommentar einer langjährigen Mitarbeiterin, die sich durch eine herausragende Wahrnehmungsfähigkeit von Nase und Gaumen auszeichnet aber kaum über eine Erfahrung mit den ganz großen Weinen verfügt, lautete spontan und geradezu andächtig direkt nach dem ersten Schluck: „So etwas habe ich noch nie getrunken!“
Zu den großen Herausforderungen in der Welt des Weines gehört die Übersetzung eines Geschmackserlebnisses – zumal eines großen – in Sprache zum Zweck der Vermittlung dieser Erfahrung. Je überwältigender das Erlebnis, desto schwieriger und aussichtloser ist dieses Unterfangen. Wenn gelegentlich beim Wein von Poesie in Flaschen die Rede ist, so wird damit auf die sprachliche Tradition der Beurteilung von Dichtung zurückgegriffen. Die Deklination der einzelnen Aromen und die ausdifferenzierte Beschreibung von Nase, Auftakt, Gaumen und Abgang sind nur untaugliche Hilfsmittel, wenn das Subjekt der Erfahrung eines großen Weines im Totaleindruck unterworfen ist. Aber so wie der Genuss eines großen Kunstwerks nicht naiv, sondern nur mit und in der dem Kunstwerk angehörenden Tradition vollzogen werden kann, so bedarf der Genuss eines großen Weines einer langen und bewussten Trinkerfahrung, hoher ausgebildeter Empfindsamkeit in Duft und Geschmack und der Bereitschaft, sich bei berechtigter Gelegenheit von einem Wein hinreißen zu lassen.
Die absolute Perfektion eines – nennen wir ihn der Einfachheit halber - 100-Punkte-Weines im Augenblick seines Genusses ist mehr als die Summe der Beschreibung seiner Eigenschaften. Die Empfindung seiner Eleganz und Harmonie, seiner Vielfalt und Veränderbarkeit – etwa vom ersten zum zweiten Glas – ist sprachlich nicht restlos aufzulösen. Also glauben Sie mir einfach: wir haben an diesem Abend zu viert aber einmütig die große Freude, mit Viñedo Chadwick 2000 einen perfekten Wein im richtigen Augenblick zum passenden Essen zu trinken. Als die Flasche leer ist und wir noch einmal am Kaiken Ultra kosten, kommt uns dieser – entschuldigen Sie bitte Senior Montes, sie verstehen schon, wie es gemeint ist – wie ein derber Landwein vor. Freudig gespannt, wie sich bei nächsten Gelegenheiten die restlichen sieben Flaschen präsentieren und mit Verständnis für das Urteil der Juroren des Berlin-Tastings zünde ich mir eine Zigarette an, den Aschenbecher in Reichweite.
Mai 2008
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Wein und Ideologie
1. „Neue Welt“
Es ist lange her, kurz vor dem Mauerfall, eine ältere Dame verlangte nach einem Wein aus dem Elsass. Wir führten verschiedene Weine der Genossenschaften von Turckheim, Ingersheim und Eguisheim, die von der Dame mit dem Wunsch nach einem Winzer-Wein kategorisch abgelehnt wurden. Auf meine Erklärung, dass diese Genossenschaften häufig ein besseres Niveau böten als zahlreiche Winzer und auf die Frage, warum sie diese denn ablehne, antwortete sie im Brustton der Überzeugung, sie kaufe keine Weine von kommunistischen Erzeugern! Verblüfft verzichtete ich auf eine Erläuterung des Genossenschaftswesens, um es vom Vorurteil des Kommunismus zu befreien. In solchen Fällen helfen keine Debatten.
Aber was bedeutet diese Antwort überhaupt?
Die Suche nach der Person, die Verantwortung für das Produkt trägt.
Die Ablehnung von Massenware, die von Kollektiven für Kollektive gemacht wird.
Die Beharrung auf die eigene Individualität, der nur individuelle Produkte gerecht werden.
Die Setzung von Identität, der das Andere zum Gegner und ideologisch ausgeschlossen wird.
In all den Jahren des Weinhandels sind mir zahlreiche Ausgrenzungen von Weinen begegnet, nach dem Muster von Fixierungen, die auf irrationale Weise die Identität des Bekundenden zu stabilisieren helfen und ums Verrecken nicht preisgegeben werden. In der an mentaler Bescheidenheit nicht zu überbietenden Variante: „Ich mag keine italienischen Weine!“ Der Grund dafür ist häufig einfach gestrickt. Immer wenn der Träger dieser Aussage in der Vergangenheit einen italienischen Wein getrunken hat, hat dieser nicht geschmeckt oder Übelkeit erzeugt. Das war zwar höchstens drei- bis viermal der Fall, reicht aber zusammen mit den allgemein durch die Ereignisse der Vergangenheit verankerten Vorurteilen zur Panscherei italienischer Winzer aus, um nie wieder einen „Italiener“ zu trinken.
Eine andere von jeder Kenntnis freie Version lautet: „Ich mag keine französischen Rotweine, die haben mir zuviel Tannin.“ Diese kleine Privatideologie verdankt sich einer Mischung aus schlechter Erfahrung, vorschneller Festlegung und Totalisierung, die kein Bewusstsein von der Vielfalt hat und auch keine von der Offenheit und Veränderbarkeit des eigenen Schmeckens anlässlich neuer Erfahrungen. Hauptsache, die Komplexität ist rasch und endgültig gebannt und die Kategorien für die Weinauswahl einfach und ein für allemal sicher. Selten sind solche Auffassungen zu erschüttern, gelegentlich gelingt es durch Blindproben ein wenig Unsicherheit ins Gemüt des Probanden zu senken.
Die Rede über Wein birgt ideologische Ablagerungen, die bei jeder Gelegenheit freigespült werden. Bei dem Weintrinker, der Weine aus Übersee mit dem Argument ablehnt, man habe hier in Europa genügend gute Weine, kreuzen sich Argumente aus dem Bereich des Umweltschutzes, „der aufwendige Transport“, mit solchen der Abwehr von Fremdheit und der Verweigerung eines Weltbürgertums, das offen auch die Welt des Weine betrachtet. Europa und insbesondere Deutschland dürfen ihre Waren in aller Welt vermarkten und sich wie selbstverständlich der Anerkennung sicher sein, aber der Wein aus Chile, Argentinien, Australien, Neuseeland wird boykottiert oder scheel angesehen trotz fachlicher Expertise.
Seit einiger Zeit, spätestens seit der Genehmigung der EU, dass durch geschmacksbildenden Enzymeinsatz kreierte Weine aus der Neuen Welt auch nach Europa kommen dürfen, taucht ein Verdikt der sich für aufgeklärt haltenden Kundschaft verstärkt auf: „Keine Weine aus der Neuen Welt!“ Wobei seltener auf die Enzyme, sondern fast immer auf die Eichen-Holzspäne als Übel der Weinbereitung hingewiesen wird. In eine Diskussion verwickelt über die Grenzen des Einsatzes von Technik bei der Weinbereitung, und was denn an dem Einsatz der Eichenchips so tragisch sei im Verhältnis zum Fassausbau, Holz sei immerhin Holz, entsteht eine herrliche Ratlosigkeit. Das Naturprinzip muss an dieser Stelle seine eigene Gesetztheit anerkennen und die so selbstverständliche Identifikation von Weinzubereitung und Natur in Frage stellen zu Gunsten einer Reflexion des Verhältnisses von Tradition und Technik und der Festlegung ihrer Grenzen bei der Weinerzeugung.
Hat man dann durch vertrauensbildende Hintergrundinformationen die Seriosität des einzelnen Winzers glaubhaft erläutert, wobei die Person dessen, der die Information gibt, und das Ansehen des Weinhandels, den er vertritt, vertrauensbildender sind als die Sachinformationen selbst, verschwindet bei dem ein oder anderen der Widerstand. Bei vielen Konsumenten aber ist der Vorbehalt gegenüber Weinen aus der Neuen Welt unhintergehbar.
Um bei Ihnen für Irritation zu sorgen, eignen sich zwei unterschiedliche Interventionen, eine philosophische und eine ökonomische, und man darf gespannt sein, was sich der damit konfrontierte Weinliebhaber einfallen lässt.
Häufig findet die Ablehnung etwa chilenischer Weine mit dem Argument statt, dass „wir hier in Europa“ doch genügend guten Wein hätten und den aus Chile nicht nötig haben, verstärkt durch den diffusen Hinweis auf den langen, teuren und ökologisch unverantwortlichen Transport. Wenn ich dann philosophisch auf unser Weltbürgertum und die offene Weltgesellschaft verweise, aus deren Perspektive sich eine solche Position als Eurozentrismus ausweise, wächst meist das ökologische Scheinargument des unverantwortlichen Transports ins Unermessliche. Ich kann mich nicht entsinnen, dass nur einer die Struktur seines eigenen Denkens für solche Ausgrenzungen erkannt hätte.
Einer dieser Verweigerer nannte als Kriterium seiner Weinwahl die unmittelbare Erreichbarkeit des Erzeugers, wobei er interessanter Weise die Grenze nicht national, sondern europäisch zog. Und auf meinen naiv vorgetragenen Einwand, dass man Chile oder Südafrika in vierzehn Stunden mit dem Flieger erreichen könne, setzte er als Begründung, dass seine Frau zu solch langen Flügen nicht bereit sei. Vermutlich wollte er zum Ausdruck bringen, dass der Kern seiner Person von den europäischen Grenzen zusammengehalten werde. Im Weltmaßstab zu denken, überfordert viele. Ein Fortschritt sollte allerdings auch Anerkennung finden, der Deutsche denkt heute meistens nicht mehr national, sondern wenigstens europäisch, doch der Verdacht liegt nahe, dass der nun etwas weiter gefasste Verschluss die gleiche Funktion erfüllt wie der einst nationale: die Angst vor dem Fremden und Anderen durch eine willkürliche Fixierung von Identität zu kompensieren. Krasser, sprich national, ist die Abwehr der Franzosen. Für viele chilenische Qualitätserzeuger zum Beispiel ist Frankreich ein weißer Fleck auf der Exportlandkarte Europas.
Auf den ökonomischen Einwand, dass doch gerade wir in Deutschland als Exportnation abhängig sind von der Anerkennung aller Welt für unsere Produkte und ihrer Offenheit, sie zu konsumieren, so dass wir umgekehrt doch auch selbst Produkten der Neuen Welt aufgeschlossen gegenüber treten sollten, wurde neulich mit dem Argument gekontert :“Aber nicht bei Lebensmitteln!“ Maschinen ja, aber keinen Wein. Sie trinken ihre Moral, ihre Geschichten, eigentlich sich selbst.
2. „Terroir“
In dem neuen Roman des Spaniers Rafael Chirbes, „Krematorium“ (deutsch, Ende 2008), der von der Kritik in Deutschland zwar gut, aber nicht so herausragend aufgenommen wurde, wie er es verdient hätte, findet sich die Kennzeichnung des Ölbaums und des Weinstocks als heilige Pflanze. Der Ölbaum sei eher polytheistisch , ein Gewächs der klassischen Götter Griechenlands, während der Wein christlich sei. Er hole das Blut aus der Erde und verwandle es in Christi Blut. Chirbes verweist an dieser Stelle, weil ihm der Name symbolisch so schlagend erscheint, auf den Rhone-Wein (Vacqueyras), bzw. das Weingut „Le Sang des Cailloux“: das Blut der Steine. (S.282)
Der deutsche Staatsrechtler Carl Schmitt beschreibt 1923 in dem Vortrag „Römischer Katholizismus und politische Form“, die starke Abhängigkeit katholischer Völker vom Boden. Der Hugenotte und Puritaner vermag auf jedem Boden zu leben, indem er sich zum Herrn der Natur macht und sie unterjocht, seine Herrschaft bleibe dem römisch-katholischen Naturbegriff unzugänglich: „Römisch-katholische Völker scheinen den Boden, die mütterliche Erde, anders zu lieben; sie haben alle ihren ,terrisme’ . Natur bedeutet für sie nicht den Gegensatz von Kunst und Menschenwerk, auch nicht von Verstand und Gefühl oder Herz, sondern menschliche Arbeit und organisches Wachstum, Natur und Ratio sind Eins. Der Weinbau ist das schönste Symbol dieser Vereinigung, aber auch die Städte, die aus solcher Geistesart gebaut sind, erscheinen wie natürlich gewachsene Produkte des Bodens, die sich der Landschaft einfügen und ihrer Erde treu bleiben.“ (R.K.u.p.F.,München 1925, S.15)
Was für ein Zitat! Es bündelt alle Motive der ideologischen Entgegensetzung von alter, katholisch-mediterraner und neuer, protestantisch-amerikanischer Welt, und der Weinbau wird als das schönste Symbol des Terrisme der alten Welt gefeiert. In dieser Tradition ist der Wein gar nicht anders zu denken, denn als römisch-katholisch-göttlicher Ausdruck, oder emphatischer, als Blut der Erde Gottes auf der er wächst. Der Terroir-Gedanke ist der europäischen Weinanbautradition von vornherein im Rahmen christlich-katholischer Metaphysik mitgegeben.
Die heutige Wiederbelebung und Betonung des Terroir kann als Versuch gewertet werden, mit diesem Begriff all die Massenerzeuger und Winemaker mit einer metaphysischen, vermeintlichen Ursprungskategorie ideologisch zu bekämpfen, die daran glauben, der Sitz des Göttlichen liege in der Weinchemie, die das zu kreieren in der Lage sei, was eigentlich dem Boden und der Kunst des Erzeugers zu verdanken ist.
Rafael Chirbes beschreibt in „Krematorium“ nicht zum ersten mal spanische Küstenstädte, die in den letzten 30 Jahren unnatürlich, weil rasend schnell und abgrundtief hässlich aus allen Nähten platzen, um Europäern aller Provenienz auch im Winter einen Platz an der Sonne zu bieten, entstanden auf der Basis wilden Spekulierens mit Grundstücken und Immobilien, mit Hilfe von Baugenehmigungen bestochener, korrupter Stadtverwaltungen, ohne planvolle Einbettung in eine sinnvoll entwickelte Infrastruktur der Stadt. Chirbes’ Allegorie dieser Entwicklung ist Benidorm. Grundlage der Bewertung solcher Städte ist der traditionelle, römisch-mediterrane Gedanke ihrer Einfügung in die Landschaft, ihrer quasi natürlich-göttlichen Gewachsenheit aus dem Boden, die Stadt als Repräsentant vorgegebener natürlich-göttlicher Ordnung.
Die gleiche Entgegensetzung findet man auch in der Beurteilung der Weinberge, die entweder natürlich über Jahrhunderte parzelliert gewachsen sind oder neuerlich in der Ebene zwecks Erhöhung des Ausstoßes im großen Stil angelegt wurden. Die Position, von der aus Chirbes die Entwicklung der spanischen Mittelmeerstädte betrauert, ist identisch mit der Position, aus der heraus der An- und Ausbau von Massenwein gegeißelt wird. Ein Denken in dieser Tradition betrachtet den Wein als Repräsentanten des Terroirs , dessen Konsum mit der Ordnung christlicher Metaphysik verbindet. Diese Vorstellung grundiert die Mentalität des abendländischen Weintrinkers und das Konzept des Terroirs im Weinbau selbst, diese Vorstellung begründet den abendländisch-christlichen Mythos des Weins. Das Fundament des Handels mit Weinen ist dieser Mythos, der Winzer ist seine Gestalt, der Weinkeller sein Hort und der Weintrinker sein Vollstrecker.
Mario Scheuermann hat im letzten Jahr in einem dreiteiligen Essay (Slow Food, 16.Jg., Nr. 2,3 u.4) sich wiederholt mit dem Begriff des Terroir auseinandergesetzt. Er setzt den Schwerpunkt seiner Überlegungen, da ihm die geographischen und agronomischen Festlegungen nicht ausreichen, auf den individuellen Schöpfungsprozess des Winzers, der an die Grenzerfahrungen mittelalterlicher Mystiker erinnere und poetische Dimensionen habe. Ich denke, wir sollten die Kirche im Dorf lassen. Eine derart romantisch-mystische Überhöhung des Winzers, dem es um die Einswerdung und mentale Verschmelzung mit seiner Umgebung gehe, dem der Weintrinker entspreche, indem er den geschaffenen Wein in meditativer Versenkung erfahre, entspringt als Deutungsmuster selbst der tiefsten romantischen Einheitssuche des Ichs mit der Welt und mag als sympathischer Selbstentwurf des Weinliebhabers Scheuermann auf der Suche nach Eigenwärme seine Berechtigung haben. Doch gehört diese Position selbst zum ideologischen Inventar im Umgang mit dem Begriff des Terroir. Sich selbst als Anhänger eines deutsch-romantischen Verständnisses von Terroir im Gegensatz zum rational französischen Verständnis zu überhöhen, hilft nicht weiter bei Überlegungen zur Ideologie des Begriffs.
Es genügt doch völlig, die alljährliche besondere Leistung eines Winzers oder einer Genossenschaft bei der Erzeugung von Lagenweinen mit ihrer spezifischen Stilistik anzuerkennen und sich beim Genuss, der manchmal unbeschreiblich und besonders sein kann, an ihnen zu erproben und erfreuen, ohne gleich eine romantische Ideologie daraus zu machen. Und wenn Winzer wie Reinhard Löwenstein im Überschwang den Prozess der Weinwerdung geradezu poetisch beschreiben, so muss der Weinkritiker und Genießer diesen Überschwang doch nicht teilen, um einen unglaublichen Genuss an Löwensteins Weinen zu haben und die individuelle Leistung ihres Erzeugers anzuerkennen.
Das erinnert an eine alte Auseinandersetzung in der Literaturwissenschaft Ende der 70er Jahre. Als Reaktion auf die traditionelle romantische Überhöhung des Dichters, versuchte man Dichtung ohne den andauernden Reflex auf den Dichter zu verstehen und sich auf den Text zu konzentrieren. Die alte, zum Kalauer mutierte Frage „Was will uns der Dichter damit sagen“ und die damit einhergehende Dichtergläubigkeit wurden obsolet zugunsten einer Aufmerksamkeit auf den Text. So sollte man es auch mit dem Wein halten. All unsere Aufmerksamkeit gilt dem Wein, den der Winzer mit seiner kenntnisreichen, spannenden und von Ungewissheit geprägten Arbeit hergestellt hat. Ich plädiere für eine diskrete Romantik, die sich der salbungsvollen und mystischen Aufladung der Relation Wein - Winzer - Terroir in der Öffentlichkeit einfach enthält. Kein Zweifel, Weinmacher, die ihre Böden verstehen, ihr Handwerk und auch die Technik beherrschen, sich absolut einsetzen und ein singuläres Produkt erzeugen, verdienen allerhöchste Anerkennung.
Aber in der Positionierung von Mario Scheuermann gehen ein elitärer Aristokratismus, der sich eitel ständig darauf beruft, alle möglichen Weinlegenden dieser Welt in bester Gesellschaft verkostet zu haben und eine poetisch-philosophische Ambition, die sich via Analogiezauber und Übertragung dilettantisch ununterbrochen bei renommierten Autoren bedient, um den Umgang mit Wein kulturell und mythisch aufzuladen ( „Was Hegel über den Stellenwert von Planeten sagte, trifft auch auf den Wein zu,…“ ,Wein und Zeit, S.70; ein schönes Beispiel für viele) eine Einheit des Denkens ein, das das zu reflektieren vorgibt, dem es selbst unterworfen bleibt. Das Kriterium seiner Unterscheidung von „Weinmonumenten“ und „Momentweinen“ ist, dass es letzteren an Tiefe und damit an Empfindung fehle. (Wein und Zeit, S.46)
Auch die Kategorie der Tiefe entstammt, wie der Begriff des Terroir, der abendländisch-christlichen Metaphysik und hat schon immer ideologisch herhalten müssen, sich von der Oberflächlichkeit der Neuen Welt, vor allem von Amerika abzusetzen. So spricht etwa auch der französische Soziologe Jean Baudrillard in seinem Amerika-Buch (deutsch, München 1987) generalisierend vom nicht überzeugenden Bouquet kalifornischer Weine und der Parodie der Önologie in den faden Weinen von Sakramento (S. 114 u. 146) und kennzeichnet Europa, seine Geschichte und seine Metaphysik mit der Kategorie der Tiefe im Kontext der Kategorien von Ursache und Boden, sprich Terroir (S.16). Ist es denn nicht möglich, sich dieser permanenten Entgegensetzungen zu enthalten zugunsten der konkreten Wahrnehmung einzelner Erzeuger, ihrer Arbeit und ihren Produkten, gleichgültig, woher sie kommen? Ist diese permanente Selbstvergewisserung als deutsch-romantisches Subjekt oder der damit verwandten Tradition europäischen Metaphysik nötig, um Wein zu genießen und darüber zu sprechen?
Den Titel „Wein und Zeit“, den Scheuermann der Zusammenstellung seiner Essays (Stuttgart 2007) gibt, verdankt er einerseits der schönen Formulierung eines Winzerfreundes: „Wein ist Zeit; denn die Zeit ist es, die den Wein macht.“ Gemeint ist damit, dem Wein bei seiner Entstehung „nach alter Art“ die ihm gemäße Zeit zu lassen (S.115). Zugleich verbeugt sich Scheuermann aber vor Martin Heidegger für die Idee zum Titel (S.4). Da ist sie wieder, diese trotz Verbeugung anmaßende Aneignung in diesem Fall philosophischer Hochkultur zum Zweck der Erhöhung des eigenen Diskurses und des Weines. Fallen Seinsvergessenheit und Weinsvergessenheit für Scheuermann zusammen?
Ist der europäischen Weinbautradition die Metaphysik des Terroirs schon mitgegeben , so verschärft Scheuermann dieses Erbe noch, indem er einzelne Erzeuger, vom metaphysischen Pathos benommen, zu „Schöpfern“ weiht, deren Weine „Seinsextrakt“ seien (S.109). Solche Schöpfer versuchten, „mit dem Land zu verschmelzen, Teil des Terroirs zu werden“ (S.109). Diese in den Winzer und seine Scholle projizierte Verschmelzungsphantasie – welch ein köstlicher Kurzschluss imaginärer Selbstbespiegelung! – meint der Verkoster in meditativer Versenkung via Mineralität erschmecken zu können, im „Ringen um die Wahrheit des Weines“ (S.107) Die Mineralität ist für den Verkoster die vermeintlich wahrnehmbare Spur des Terroirs im Wein, der faktische Beleg für die metaphysische Anwesenheit (Realpräsenz) der Erde im Wein, Gottes im Glas, des Seins im Seienden. Allein eine solche römisch-katholische, eucharistische Identifikation ist dem Denken Heideggers völlig fremd. Sie steht eher in der Tradition des römischen Katholizismus.
Nehmen wir noch einmal den katholisch-verschärften Carl Schmitt zu Hilfe, um diesen Zusammenhang zu beleuchten: „Alkoholverbot als Erscheinungsform der Feindschaft gegen das katholische Sakrament des Altars: Neutralisierung des Weins zum Alkohol, Kriminalisierung des Weintrinkers… Was ist denn der Prohibitionist? Ein Nicht-mehr Europäer, der aus dem Gefühl heraus, dass er selbst kein Recht mehr hat, Wein zu trinken, allen anderen das Weintrinken verbieten will, um das Sakrale zu vernichten.“ Diesen Notaten aus dem März 1949 (Glossarium, S.228) entsprechend ist das Recht, Wein zu trinken, für Schmitt zutiefst mit der europäisch-katholischen, dem Terrisme verpflichteten Metaphysik verbunden. Deshalb versteht er jeden Aufruf zur Prohibition als feindlichen Angriff auf das Sakrale, auf das katholische Sakrament des Altars.
Epilog
Ein über die Jahre immer wieder auftauchendes Phänomen ist die Suche von Kunden nach einem Weinerlebnis, das sie in den Ferien, meistens im mediterranen Raum, oder in einem anderen besonderen Augenblick gehabt haben. Sie wünschen sich den Wohlgeschmack zurück, den sie erlebt haben, sind im Grunde darauf aus, dieses einmalige Geschmackserlebnis immer wieder zu finden. Diesen Erfahrungen scheint ein Glücksgefühl eigen, das sie weit aus dem Alltag herausragen lässt, und dieses Glücksgefühl wird mit dem Wein verbunden und nicht mit der Atmosphäre der Umgebung. Unabhängig von der Geschmackserfahrung des einzelnen und von der Qualität des für die Erfahrung verantwortlichen Produkts, und jenseits der Fähigkeit, diese Erfahrung sprachlich zu vermitteln, scheint mir kein Unterschied zum Glücksgefühl eines Weinprofis zu bestehen, wenn er einem großen Wein begegnet, es hat etwas absolutes. Heute rate ich derart Suchenden, die Suche aufzugeben, sich die Erinnerung zu bewahren und zu warten, bis sich ein solches Ereignis des Wohlgeschmacks wieder ergibt. Diese Möglichkeit Glück zu spenden, birgt der Wein für alle und besonders im Urlaub. Sonne, Meer, Liebe, Essen und Wein bilden ein Set, das in den Ferien quasi anthropologisch allen Glück spendet. Natürlich sind es die guten Weine, die die Wahrscheinlichkeit der Wiederkunft eines glücklichen Geschmackserlebnisses erhöhen. Und dass jeder für sich weiß, was ein guter, ordentlicher Wein ist, setze ich hier und heute der Kürze halber einmal als selbstverständlich voraus.
März 2009
Copyright: flaschenpoesie.de
Nachfolgend ein Text, der nichts mit dem Thema Wein zu tun hat, es sei denn, man genehmigt sich ein Glas bei seiner Lektüre!
Hey man, it’s New York!
Die erste bewusste Erinnerung daran, wie New York vom Kopf Besitz ergriff, fällt in das Jahr 1964. Zu Weihnachten bekam ich von meinem Patenonkel ein tausendteiliges Puzzle: die Skyline von New York. Für einen Achtjährigen brauchen tausend Teile ihre Zeit, zueinander zu finden, vor allem der undifferenziert blaue, wellige Hudson leistete großen Widerstand und provozierte zahllose, ungeduldige und gelegentlich gewaltsame Steckversuche. Tagelang hatte dieses Panorama Zeit sich einzuprägen, und besonders geheimnisvoll wirkten die im Schatten gelegenen Hafenanlagen, die im Kontrast zu den in der Sonne glänzenden Wolkenkratzern abenteuerliche Geschichten bargen. Ich kannte keinen, der je New York bereist hatte und ein Fernsehgerät kam erst zwei Jahre später ins Haus. New York sei die größte Stadt in Amerika: das war die einzige Information. Da Amerika in der Vorstellung schon als riesengroß verankert war, erschien New York nur unwesentlich kleiner. So mochte der so geprägte Kinderkopf auch später kaum glauben, dass New York nicht die Hauptstadt von Amerika ist, und er musste sich auch daran gewöhnen, dass diese Kulisse nur Manhattan darstellt und New York weit darüber hinausgeht. Das eigentliche Geschenk mit diesem Puzzle war New York als Verheißung, als glanzvoller Traum von Höhe und Größe, als Ort, der Erlösung verspricht.
Mit all den seitdem im Kopf gespeicherten und aufgeschichteten Filmen, Bildern, Melodien und Geschichten zu dieser Stadt stehen wir im März 2009 an einem Sonntagnachmittag bei klarem, kalten Sonnenwetter zu zweit in Jersey City an der Waterfront und schauen über den Hudson auf die glänzende Kulisse Manhattans minus World Trade Center und ohne die Nahtstellen eines Puzzles. Mit einem Taxi vom Flughafen Newark haben wir uns dort absetzen lassen, um von dort aus mit der Fähre nach Manhattan herüberzufahren und die Ankunft nach einer Schiffspassage über den Atlantik zu simulieren. Eigenartiger Weise ist kaum eine Menschenseele unterwegs, und die Ruhe, mit der wir die Aussicht auf die Traumstadt der Moderne auf uns einwirken lassen, steht im irritierenden Kontrast zur überkommenen Vorstellung ihrer Vitalität. Die naturgemäß obligatorischen Schnappschüsse vor dieser Kulisse werden gemacht. Bei späterer Durchsicht finden sich Fotos, auf denen wir einen besonderen Glanz in den Augen haben und ein geradezu beseeltes Lächeln zeigen, dessen Grund wir in der Erfüllung des Traums deuten, mit der Imagination dieser Stadt sich tatsächlich und endlich vereinigen zu können: Ankunft in der verheißenen Stadt. Zu dieser nachträglichen Beobachtung passend erwägen wir kurz im Scherz, dass wir jetzt zum Flughafen zurückfahren und wieder nach Hause fliegen könnten, weil die ganze Sache mit diesem Anblick eigentlich erledigt sei.
Doch nichts ist erledigt! Nähern wir uns dem Zentrum Manhattans des Nachts auf der Erde zusammen mit dem gerade aus Deutschland eingewanderten Helmut und dem New Yorker Jojo, die Jim Jarmusch für uns erschaffen hat. Jojo möchte mit dem Taxi aus Harlem nach Brooklyn. Als er merkt, dass Helmut in seiner ersten Schicht als Fahrer das Taxi nur ruckelnd vorwärts bewegen kann, entspinnt sich folgender Dialog:
Jojo: You let me drive. Helmut: It’s not allowed! Jojo: Yeah it’s allowed, it’s New York! Helmut: Don’t tell, sonst bin ich meinen Job los.
Nach dem Fahrerwechsel geht es über den Broadway Downtown Richtung Brooklyn Bridge und auf der Höhe des Times Square ist Helmut, der als Beifahrer nun Zeit hat, seine Umgebung zu betrachten, vom nächtlichen Lichterglanz ganz hingerissen:
Helmut: It’s nice. Jojo: It’s New York, it’s cool. Helmut: It’s cold. Jojo: No, it’s cool. Helmut: I understand, it’s cool is good.
Innerhalb kurzer Zeit lernt der deutsche Helmut von Jojo zwei zentrale Bedeutungen New Yorks. Alles ist erlaubt. Der Unterschied von Taxifahrer und Fahrgast ist aufgehoben und damit auch die in Deutschland wie sonst kaum wo beheimatete personale Identität, was bleibt ist das Taxi. Wenn man aus dem Taxi nun versuchsweise einmal einen Text macht, dann bedeutet diese Lektion New Yorks, dass die Autorschaft hinfällig ist, dass auch ein beliebig anderer den Text schreiben kann. Der deutsche Helmut weiß natürlich, dass er seinen Job los ist, wenn herauskäme, dass ein anderer seinen Text geschrieben hätte, aber diese eherne Regel gilt nicht mehr im Geiste New Yorks.
Und dann bedeutet New York nicht einfach nett, hübsch oder schön, sondern cool. Angesichts des im Glanz der Leuchtreklamen aufscheinenden Times Square fällt die Differenz von Ideal und Sachverhalt, Schein und Sein in sich zusammen. Ausdruck und Inhalt werden eins, was zählt, ist der Glanz des Signifikanten, und jede Bedeutung zählt nur unter dem Gesichtspunkt ihres Glanzes auf der Oberfläche. Insofern ist cool New York und umgekehrt, mit Konsequenzen für die unter dem Ausdruck liegende Funktion der wahren Bedeutung, für die Wahrheit, die mindestens zweitrangig, wenn nicht hinfällig wird.
Wenn wir nun schon einmal am Times Square sind und das auch noch im März 2009, dann führt in diesem Gesamtzusammenhang kein Weg daran vorbei, das legendäre Foto des deutschen Guttenberg, an diesem Ort zur gleichen Zeit des Nachts entstanden, mit in Betracht zu ziehen. Im Unterschied zu Helmut hat Guttenberg die Lektionen Jojos längst verinnerlicht und inszeniert sich mit ausgebreiteten Armen selbst als Teil der glänzenden Kulisse im Zentrum der Imagination New York. Viele haben ihm die Pose aus deutscher Perspektive übel genommen. Da war von Allmachtsgeste und großspuriger Weltumarmungspose die Rede. Ich bin der König der Welt, was kostet die Welt, mir gehört die Welt, waren Sätze in der deutschen Presse zur Kennzeichnung dieser Selbstdarstellung. Man könnte auch meinen, dass sich hier einer präsentiert, der alle Karten offen legt oder es zumindest vorgibt, der überdeutlich zeigt, dass er nichts verbergen will: demonstrative Ehrlichkeit und offenes Angebot. Diese Geste sagt aber zudem in der Tradition der Ikonographie des Erlösers: Ich bin der, auf den ihr gewartet habt. Einer beschrieb sie auch, und Jojo sei dank können wir jetzt sagen völlig richtig, mit dem Satz: Ich bin hier zu Haus.
Niemandem ist bisher aufgefallen, dass diese Pose Guttenbergs ein unmittelbares Zitat vom Times Square selbst ist. Wenn man das Foto, das in leicht unterschiedlichen Versionen existiert, genauer anschaut, fällt eine Figur mit der gleichen Geste der ausgebreiteten Arme, vom Betrachter aus gesehen links über Guttenbergs Kopf, rechts neben der Billy Elliot-Werbung, auf einer Leuchtreklame ins Auge. Ob er sie nun bewusst oder unbewusst wahrgenommen oder auf Geheiß des Fotografen kopiert hat, lässt sich bei Guttenberg nach all den Erfahrungen mit ihm nicht sagen, ist aber auch völlig gleichgültig, weil: it’s New York! „Deutschlands coolster Minister“, von nicht wenigen als politischer Messias und Erlöser gefeiert, hat mit Unterstützung von Bild und Bunte New Yorker Glanz in deutschen Köpfen wachgerufen und glauben gemacht, damit ließe sich in Deutschland regieren. Aber Deutschland ist noch im Bewusstseinszustand Helmuts bevor er New York erreichte, hier ist es noch nicht erlaubt, das Taxi des Fahrers zu fahren oder den Text anderer Autoren zu schreiben. Möglicherweise ist Guttenberg bei seiner modernen Prägung dieses Paradigma völlig fremd. Jojos New Yorker Mentalität hat zwar in deutschen Köpfen eine große Anziehungskraft, sonst wäre Guttenberg nicht nach wie vor so beliebt, doch in der deutschen politischen Hierarchie hat sie, anders als die traditionelle Wissenschaft, noch keine Position der Macht. Erst wenn der Glanz die Wahrheit schlägt, der Showbizz die herkömmliche Politik, die Inszenierung die Sache, und zwar institutionell, erst dann wird Guttenbergs Zeit gekommen sein. In diesem Zusammenhang machen auch die gerüchteartigen Meldungen nach seinem Rücktritt Sinn, dass Guttenberg plane, mit seiner Familie in die USA zu ziehen. Da gehört er hin.
Bleiben wir doch noch ein wenig am Times Square. Eines der spektakulärsten und faszinierendsten Museen amerikanischer Lebensart und New Yorker Selbstverständnisses ist der 2006 eröffnete dreigeschossige M&M Flagship Store ebenda. Für einen Alteuropäer ist es kaum zu fassen, was für eine Inszenierung rund um diese mit Zuckerglasur ummantelten Schoko-Dragees dort betrieben wird, um dieses Produkt in die Köpfe einzubrennen. Du stellst dich an eine technische Installation, die dir bei vorschriftsmäßiger Bedienung die dir gemäße Farbe deiner M&Ms anzeigt. Ein riesiges Rondell mit hunderten im M&M Look gestalteten Freiheitsstatuen, die als Spender dieser Pastillen fungieren, fängt den ungläubigen Blick ein. Ein mehrere Meter hohes Exemplar des gleichen Objekts bildet das Zentrum des Shops. In meterhohen Röhren aus Plexiglas sind hunderttausende M&Ms farblich sortiert für alle weit sichtbar aufbewahrt. Hunderte tennisballgroße Lederkugeln mit M&M Logo und Schokodrageefiguren und dem Aufdruck „Made in China“ liegen in großen Kunststoffschalen. Weitere M&M Spender aller Art, Kindergeschirr aus Kunststoff und Spielzeuge im Firmenlook bunt und massenhaft sind von gleicher Herkunft. Der amerikanische Traum wird nicht mehr mit eigenen Produkten verwirklicht. Das konsumierende, dem Glanz verfallene Volk eignet sich diesen Pop aus Fernost an und liefert sein Kapital bei den Importeuren dieses Plastikmülls ab. Die M&Ms wie sie da zu hunderttausenden farblich unterschiedlich aber völlig gleich in den riesigen Glasröhren aufbewahrt sind, wirken wie die Repräsentanten des amerikanischen Volkskörpers, gespendet von der Freiheitsstatue. Faszinierend bunt erscheinen sie wie die zeitgemäßen Hostien, die ein moderner Erlöser vom Times Square seinem übergewichtigen Volk auf die Zunge legt: der Leib Amerikas.
An einem späten Vormittag im immer noch kalten und klaren New York des März 2009 machen wir uns zu Fuß auf von Manhattan über die Brooklyn Bridge. Die Sonne gibt ein wenig Wärme gegen den kalten Wind, vereinzelte Jogger passieren, die Brückenkonstruktion will genauer betrachtet werden und die Kulissen von Brooklyn und Manhattan verschieben sich langsam in Nähe und Ferne. Da kommt uns mitten auf der Brücke eine Menschenmenge entgegen und zwingt uns beim Aufeinandertreffen an den Rand. Alles Deutsche, bestimmt an die fünfhundert deutsche Menschen schieben an uns vorbei und hinterlassen uns Gesprächsfetzen über Arbeit, Freizeit und Familie. Jeder einzelne von ihnen trägt ein kleines Schild mit seinem Namen und darunter den Ort aus dem er kommt, die allermeisten aus Ostdeutschland. Diese deutsche Kohorte aus lauter Helmuts und Hannelores, nur Augen und Reden für sich selbst, wälzt sich nach Manhattan, angezogen von seiner Verheißung, um ins Coole transformiert zu werden. Uns hätte es nicht gewundert, wenn das Ziel ihrer Wanderschaft der Times Square gewesen ist.
Ende März, Sonntagvormittag, fahren wir in aller Frühe mit der kaum gefüllten U-Bahn hinauf nach Harlem. Am Nachmittag geht der Flieger zurück nach Deutschland. Das Wetter hat in der Nacht gewechselt, ein ganz leichter Nieselregen bei deutlich wärmeren Temperaturen begleitet uns auf dem Weg zu einer Kirche, in der die schwarze Gemeinde ihren Gottesdienst mit Gospelsongs gestaltet. Der Reiseführer empfahl einen Besuch dort mit dem Hinweis, dass einige Nichtmitglieder der Gemeinde teilnehmen dürften. Als wir die Straße hinaufkommen, an der kurz vor der nächsten Kreuzung das Gotteshaus auf der linken Seite liegt, sehen wir eine Menschenschlange, die entlang der Häuserwand fünfzig Meter aufgereiht bis zur Kreuzung vor dem Eingang wartet. Ein Türsteher kommandiert lauthals und machtvoll die Wartenden, sie mögen den Bürgersteig nicht versperren und sich an der Wand entlang aufstellen, damit die Mitglieder der Gemeinde problemlos passieren und eintreten können. Als wir die Kreuzung erreichen, um uns einzureihen, stellen wir fest, dass sich die Warteschlange noch fünfzig Meter um die Ecke weiter aufreiht. Über hundert weiße Touristen stehen geduldig Schlange, um sich von einem schwarzen Türsteher reglementieren zu lassen. Das Groteske daran ist, dass eigentlich um diese frühe Stunde kaum jemand unterwegs ist. Die Straßen sind menschenleer, nur gelegentlich fährt ein Auto vorbei, und dann im Kontrast dazu diese Schlange, die sich, wie wir bald bemerken, kaum bewegt! Ohne Blick auf den um die Ecke liegenden Eingang reihen wir uns zunächst dennoch ein.
Am Straßenrand hat ein massiger Schwarzer mit polierter Glatze, leicht genässt vom Nieselregen, im beigefarbenen, deutlich zu großen Anzug mit Weste und Hemd mit offenem großen Kragen, einen Campingtisch aufgestellt, auf dem er eine Kollektion CDs mit Black Music zum Verkauf ausgebreitet hat. Ein Ghettoblaster, aus dem Gospels die Straße eintönen und in Sonntagsstimmung versetzen, steht auf der Motorhaube eines uramerikanischen Straßenkreuzers, von denen man in Manhattan kaum noch welche sieht. Seine Energie bezieht er über ein Kabel, das durch die offen stehende Beifahrertür über die rissigen Ledersitze mit dem Zigarettenanzünder verbunden ist. Der Mann ist fast im Zeitlupentempo liebevoll damit beschäftigt, die vom Nieselregen feuchten CD-Boxen mit Kleenex-Tüchern trocken zu wischen. Eine unendlich wirkende Tätigkeit, weil es immer wieder beginnt, ganz leicht zu nieseln. In der Zeit unseres Wartens spricht dieser Mann niemanden an, um einen Verkauf zu tätigen. Hochkonzentriert reinigt er mit seinen großen schwarzen Händen anhaltend die Ware und hat keinen Blick für seine potentiellen Kunden, um derentwillen er doch seinen Stand aufgebaut hat. Eine Monade in ihrer geschlossenen Welt.
Nach zwanzig Minuten, in denen sich die Warteschlange kaum bewegt hat, lösen wir uns und gehen auf die gegenüberliegende Kreuzungsecke, von der aus die im rechten Winkel fünfzig mal fünfzig Meter lange Menschenkette, an deren Anfang der Türsteher nach wie vor laut lamentierend Ordnung schafft, ganz überschaubar wird. Ich weiß bis heute nicht, warum der Anblick dieser geometrischen Kulisse vor dem Hintergrund der Gründerzeitarchitektur Harlemer Straßenzüge inklusive der Szene des CD-Verkäufers im Warten auf den Einlass ins Gotteshaus der Schwarzen für mich die eindrücklichste Erinnerung an New York im März 2009 darstellt. Man kann in New York einfach nicht hinter die Kulissen sehen, geschweige denn kommen.
März 2011
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Der
Lokalpatriot als Weltbürger
Zum „Atelier“
von Uwe Tellkamp
AUSSEN
Uwe
Tellkamps „Das Atelier“ kommt im Stuttgarter Reclam-Gelb der siebziger Jahre in
einer Reihe des Dresdner Buchhauses Loschwitz daher, die sich „Exil“ nennt.
Fühlen der Autor und sein Verlag sich unfreiwillig ausgeschlossen, in der
Fremde, aus der Heimat vertrieben, sich in ihrer freien Entfaltung
eingeschränkt? Oder befinden ein freiheitsliebendes Subjekt und sein ihm
gemäßer Verlag sich heute grundsätzlich und unabänderlich im Exil, in vollendeter
Heimatlosigkeit?
Strebt
Tellkamps Intervention überhaupt eine Rückkehr aus diesem Exil an? Was hat ihn
vertrieben und was sind die Bedingungen für eine Rückkehr?
Hätte ich
das gut 100 Seiten starke Büchlein nicht über Amazon geordert, sondern im
Buchladen zuvor gesichtet, dann würde ich es nach der Lektüre des Klappentextes
nicht gekauft haben. Dort wird Tellkamps Text als „erlebnisreicher Essay“
beworben. Was soll das denn sein? Ein Text, dessen Niederschrift zahlreiche
Erlebnisse zugrunde liegen? Wie kann sich ein unmittelbares Erlebnis überhaupt
in Literatur darstellen? Oder wird hier ein reichhaltiges Lektüreerlebnis
versprochen?
Es ist mir
von jeher verdächtig, wenn unter Verwendung des Unmittelbarkeit suggerierenden
Begriffs „Erlebnis“ etwas so hoch Vermitteltes und Artifizielles wie ein Essay
angekündigt wird und dann auch noch „voll lebendiger Leute“. Als ob diese Leute
einen bei der Lektüre in ihrer Lebendigkeit anspringen! Versprochen wird ganz
naiv unmittelbares Erlebnis und volles Leben, nicht eine durch Reflexion
gegangene Erfahrung. Ob man den Verstand bei der Lektüre überhaupt braucht?
Soll man überhaupt über die Machart des Textes und die Selbstinszenierung
seines Autors nachdenken?
Die
„sächsische Kunstszene, insbesondere in Dresden“ und der „sächsische Wein“ sind
dem Autor des Klappentextes dabei Wegweiser aus dem Exil zurück zu einem
lebendigen sächsischen Selbstverständnis: der Welt in der Provinz inne zu
werden, sich zu Hause zu fühlen. Ist „Das Atelier“ etwa Heimatliteratur?
Schließlich
werde durch Tellkamps Text auch noch „die Bedrohung der Kunst vor Augen“
geführt, wenn „sie und der Künstler in die Mühlen der Politik und der Ideologen
geraten…“ Die Freiheit der Kunst ist also bedroht, und sie gerät völlig
unverschuldet in die Mühlen von Politik und Ideologen und Tellkamp führe dem
Leser diesen skandalösen Zustand vor Augen. Werden in Sachsen heute von
politisch-ideologischer Seite Künstler etwa bedroht und in ihrer freien Arbeit
eingeschränkt?
Ich bin mir
ziemlich sicher, dass dieser Klappentext nicht von Tellkamp selbst stammt. Er
hätte sich aber vor ihm schützen sollen. Hat er ihn überhaupt vorher zu Gesicht
bekommen? Hat er ihn nachlässig durchgehen lassen?
Die Verwendung
eines vermeintlich harmlosen Wortes zeigt die Ambition des Verlags. Gleich zweimal
in achtzehn Zeilen taucht das einschränkende und zugleich suggestiv
bekräftigende, leicht antiquierte „freilich“ auf, der Siegelring unter den
Adverbien, der unmissverständlich die Zugehörigkeit Tellkamps zu einer höheren,
altehrwürdigen bürgerlichen Welt anzeigt. Tellkamp selbst verwendet es in
seinem Text nicht.
INNEN
Aufs Ganze
gesehen ist Tellkamps „Atelier“ der Versuch, die Vitalität des Kunst- und
Kulturraums Sachsen zur Anschauung zu bringen. Die
selbstverständlich-freundschaftlichen Aufenthalte seines literarischen
Alter-Egos Fabian in den Ateliers aktuell bedeutender sächsischer Künstler
beglaubigen eine unmittelbare Bekanntschaft und Auseinandersetzung mit der
lokalen Gegenwartskunst, ein Dabeisein und Mitwirken.
Durch die hierbei
aufkommenden Gespräche wird zudem der spezifisch historische Raum eröffnet, in
dem Tellkamp das aktuelle künstlerische Schaffen dieses Gebietes verankert
sieht. Fabian erfährt also nicht bei einer Art touristischer Führung durchs
Museum etwas über die Geschichte lokaler Malerei, sondern zum Beispiel bei
einem nächtlichen Kunstgespräch in der Tradition der Leipziger Akademie mit
seinem Künstlerfreund Vogelstrom in der Sammlung Pappermann in Freital. Durch
persönliche Kontakte kommen sie nachts in die Sammlung, machen ein Picknick auf
dem Boden, bei dem der Wein nicht fehlen darf und tauchen unter der
Gesprächsführung von Vogelstrom in die historische Welt der sächsischen Malerei
ein: sehen lernen. Keine Frage, das hat was! Fabian erfährt so eine Initiation
und wird Teil dieses Kulturraumes. Das ist etwas grundsätzlich anderes als der rein
äußerliche Erwerb kunsthistorischer Kenntnisse.
Für den
rheinländischen Leser des „Ateliers“ mit geringen Kenntnissen der sächsischen
Kunstgeschichte bietet Tellkamps fiktionaler Essay eine Fülle von Namen
wirklicher Maler, mit denen das die Lektüre begleitende Smartphone ein erstes
Kennenlernen erlaubt. Die Vielzahl der von Tellkamp im Essay genannten Namen
von Autoren und Künstlern aller Art ist nicht als Namedropping misszuverstehen,
sondern dient der Darstellung der geistigen Intensität des Daseins von Fabian
im kulturellen sächsischen Raum. Fabian erscheint so selbst als ein Mitglied
der Ateliers und Kunstwerkstätten, als Arbeiter im sächsischen Kunstlaboratorium.
Thomas
Assheuer, das alte und verdiente journalistische Schlachtschiff der
Bundesrepublik gegen rechte Ideologie hat am 21.3.2020 in der „Zeit“ (Der
Vulkan brodelt, das Magma des Unmuts steigt auf) sich des „Ateliers“ von
Tellkamp angenommen und ist dabei stark unter seinem Niveau geblieben, weil er
kritische Reflexe formuliert, die der Textbasis im „Atelier“ völlig entbehren.
Er unterstellt Tellkamp mit seiner initiatorischen Darstellung der sächsischen
Kunstszene, dass er zeigen wolle, „welche Alternativen für Deutschland hier
überwintert haben.“ Tellkamp treffe die „letzten Deutschen“ und die von ihm
besuchten Maler seien seine Brüder im Geiste: „sie kennen die deutsche
Landschaft und die deutsche Seele.“ Es sei ein „brachial rechtes Programm, das
Tellkamp in seinem Atelier an die Wand pinselt.“ Oder hält Assheuer ein
Verstehen der anderen Seite mittlerweile für völlig illusorisch und will sie deshalb
strategisch mit seinen Kampfbegriffen nur noch auf Distanz halten?
Halten wir
nach der Lektüre des Ateliers zunächst einmal fest: Die Wörter „deutsch“ und
„Deutschland“ kommen im gesamten Text kaum vor. Deutsche Großstädte oder
staatliche Belange kennzeichnet Tellkamp mit dem Adjektiv „trevisch“ oder
benutzt das Substantiv „Treva“, auch wenn es um Berlin oder Hamburg geht. Er versucht
„deutsche“ Kennzeichnungen meistens sprachlich zu umschiffen. Alle sächsischen, ostdeutschen oder
internationalen Städte und Gegenden werden mit ihrem Namen genannt. Warum macht
er das? Aus Gründen der Kaschierung?
Möglicherweise
interessiert ihn aber hier das „Deutsche“, die politische Dimension, die ihm
von Assheuer unterstellt wird, bei seiner identifikatorischen Feier der
lebendigen sächsischen Kunstszene überhaupt nicht. Vielmehr denkt Tellkamps
Fabian mit seinem Gesprächspartner Vogelstrom eher lokalpatriotisch an Sachsen
als ein „Gebiet“ (S.7), eine Provinz, in der die Welt zur Anschauung komme
(S.61), in die immer schon die große Welt durch lokale Künstler gebracht worden
sei (S.62), in der Abwehr des „Provinzvorwurfs“ (S.61) von Seiten der
großstädtischen Moderne und in der Behauptung einer „eigenständigen sächsischen
Moderne“ (S.60): der Lokalpatriot als Weltbürger.
In einer
Gesprächssequenz mit Martin Rahe, der fiktiven Figur Neo Rauchs, der sowohl
„die trevische als auch Leipziger Politik“ gut kenne, geht es um Militär und Soldatentum.
Rahe erzählt: „Eine befreundete ältere Dame habe sich entsetzt gezeigt, als er
ihr sagte, daß sein Sohn Leo bei den trevischen Streitkräften diene. Wie er so
etwas zulassen könne, er, als Künstler! Das seien sämtlich Verbrecher,
Staatsdiener wie die Polizei (>>Bullen<<), das Filzwerk aus
Beamten, Ordnungsmächten und so fort.“ (S.20) Auf diese Einlassung Rahes entwickelt
der Icherzähler Fabian seine Position von der Notwendigkeit des Soldatentums im
Rahmen der staatlichen Schutzsysteme als Grundbedingung kultureller und künstlerischer
Leistungen. Es gebe beim Kunstliebhaber eben das Klischee, Künstler seien gute
Menschen: „Was aber, wenn sie böser sind, als ihr glaubt?“
Vermutlich
stammt diese befreundete ältere Dame aus Westdeutschland oder ist zumindest groß
geworden im liberalen Geist von 1968 und dabei stehengeblieben. Im Reflex auf
die noch vom Geist Nazideutschlands durchsetzten Institutionen der sechziger
Jahre in der BRD gab es eine breite Distanznahme junger liberaler und linker
Geister gegenüber Militär und Polizei. Der Autor dieser Zeilen etwa hätte im
Oktober 1975 als Kommissar-Anwärter bei der Polizei antreten können, hat sich
aber nach einer intensiven nächtlichen Diskussion mit seinen linksliberalen
Abiturienten-Freunden entschieden, am Folgetag den Dienst nicht anzutreten.
Sein damals bester Freund ging wenig später, statt zu verweigern, zur
Bundeswehr, um diese Institution mit seinen politischen Freunden von innen zu
zersetzen, natürlich ohne Erfolg. Klassisch alte BRD.
Um also die
Erschütterung der befreundeten älteren Dame besser zu verstehen, hätte den
beiden sächsischen Künstlern des Soldatentums die Kenntnis überkommener
westdeutscher Mentalität helfen können, statt sich heroisch im Blick auf diese
gute Frau selbst im Licht des Bösen zu sonnen und zu stilisieren.
Ein anderes
Motiv der heroischen Selbststilisierung des Icherzählers begegnet dem Leser anlässlich
der Verachtung des kulturellen Spießertums, der mittelmäßigen Belegschaft
künstlerischer Milieus: „ja nichts riskieren, ja nicht aufs Große Ganze, und ja
kein Pathos, da kriegst du Dresche von denen, die bei allem, was nicht
durchironisiert ist, gleich den gereckten Arm sehen. Ironische Kunst, was soll
das sein? Die Sekundärindustrie weiß es…“ (S.85).
„Wir treten
in einen Kreis, der der billigen und plebejischen Überlegenheit der Ironie
überlegen ist“: mit dieser prägnanten Sentenz aus einer in Leipzig verfassten
Aufzeichnung positioniert Ernst Jünger schon 1929 sein „Abenteuerliches Herz“ (AH,
EA. S.45) am gleichen diskursiven Ort der künstlerisch-gesellschaftlichen
Konfrontation. Auch sein heroisches Gemüt will der „billigen Versuchung der
Ironie“ (AH, EA. S. 129) nicht mehr auf den Leim gehen. Dieser aufs große Ganze
gerichtete Selbstentwurf des romantischen Heroen am Vorabend der Sichtbarkeit
des gereckten Armes ist getragen vom Pathos des Aufbruchs zu einer höheren
Einheit.
Die
Linienrichter des heutigen Kunstbetriebs werfen bestimmten Künstlern den Mangel
an Ironie vor, einhergehend mit einer Zuordnung ihres Schaffens unters Hakenkreuz.
Diesen Richtern setzt der Icherzähler ganz unironisch Risikobereitschaft und
Pathos, Schöpfertum und Eigentlichkeit der Kunst entgegen. Dass diese simplen
Entgegensetzungen aber auch nie aufhören! Wer auch immer einem die Ironie madig
machen will, fordert dazu auf, den Mut zu verlieren, sich des eigenen
Verstandes zu bedienen und stattdessen begeistert etwas zu bejahen und zu
glauben, was bei wacher Reflexion sein Pathospotential und seinen
Unmittelbarkeitsanspruch immer schon eingebüßt hat. Ohne Reflexion keine
Ironie. Doch Ironie ist dem Wahrheitssucher ein Gräuel. Der heroische Anspruch will
(epigonal einen auf) Ernst (Jünger) machen und hats‘ naturgemäß schwer im
Mittelmaß einer Demokratie, in der reichlich Reihenhauskunst mit ihren quasiintellektuellen
Reflexen den Markt bestimmt. Aber niemand hier hindert einen daran, dieses
Niveau künstlerisch und existenziell zu überbieten und sich dabei an seinen
Gegnern abzuarbeiten und zu erfreuen.
Und mitten
in das „trunken wuchernde Gespräch“ (Klappentext) zwischen Fabian und
Vogelstrom über die Dresdner Romantik (S.92-98) findet dieses in seiner
romantischen Totalisierung für mich kaum noch erträgliche Klischee der
Analogisierung von Kunstproduktion und Weinerzeugung Eingang. Sie trinken einen
Weißburgunder des sächsischen Weinguts Zimmerling, Mitglied des Verbands
deutscher Prädikatswinzer. Zimmerling, dieser anerkannte Erzeuger hochwertiger
Weine, der „auf seiner Rysselkuppe … dem Granitboden nicht nur Weißburgunder
abringe“, wird im
Verlauf des Gesprächs aus Vogelstroms Perspektive zu einem kongenialen Bruder
der Maler der Dresdner Romantik. Auch er ein romantischer Heros, nicht vor der
Leinwand, sondern auf dem Weinberg: „Ein Radikalwinzer, der Zimmerling, rief
Vogelstrom, nur beste Qualität, keine Herbizide, und alles, was faul sei,
absägen!“ (S.96) Im Nu verwandelt sich der Wein als Gegenstand der Rede in die
Kunst, bei deren Verfertigung auch alles abgesägt werden muss, „was Kitsch
ist“, die sich dann ins Leben transformiert, aus dem analog die rosaroten
Brillen herausgesägt werden müssen. (S.96)
Und dann
lässt Tellkamp ein sehr schönes Bild folgen, für dessen ironische Pointe ich
als Weinhändler besonders empfänglich bin. Der über die Dresdner Romantik schwadronierende
Vogelstrom öffnet den Drehverschluss der zweiten Flasche Zimmerling
Weißburgunder mit dem Korkenzieher: „Vogelstrom drillte den Korkenzieher in den
Schraubverschluß und riß ihn ab.“(S.94) Das
hat romantische Klasse! Er ignoriert einfach den Fortschritt der
Verschlusstechnik und malträtiert den Drehverschluss mit dem Korkenzieher,
einmal wie immer: ein schönes Bild der ironischen Brechung romantischer
Imagination an der Prosa der Verhältnisse anlässlich des Öffnens einer
Weinflasche. Fabian weiß also bei aller Sympathie für Vogelstroms
romantisch-heroischen Gestus von der ironischen Wahrheit der Prosa. Da kann man
doch mal lächeln! Was mich dann wieder nachdenklich stimmt, ist die Tatsache,
dass Vogelstrom die Flasche mit dem falschen Mittel doch hat öffnen können und dabei
nicht scheitert. Die romantische Herangehensweise an die Welt ist zwar
inadäquat, führt aber dennoch zum Ziel: die Flasche ist geöffnet und kann
getrunken werden. Das hat er eigentlich nicht verdient! Ich als Autor hätte ihm
das wenigstens mit einer harmlosen, aber stark blutenden Wunde am Handballen
vergolten. Hat Vogelstrom vor lauter Reden in seiner Welt überhaupt gemerkt,
dass er die falsche Technik anwendet?
Wie dem auch
sei, Vogelstrom raunt - schon am Rande des Suffs - in diesem trunkenen Diskurs über die Dresdner
Romantik: „im Jahr Fünfzehn habe es gerumst, das Dunkelding sei ausgebrochen
mit Folgen für die ganze Republik, vielleicht der Vesuv von Dresden nur ein
gerade offener Schlot, einer von vielen im ganzen scheinbar so beruhigten Land,
doch anderswo womöglich das Deckgebirge über den Schloten stärker, der Unmut
als Magma weniger druckvoll, wer wisse das schon.“ (S.94)
Unkommentiert
von den beiden anderen Mitgliedern der Gesprächsrunde, wird an dieser Stelle das
für die gesamte Republik politisch bedeutsame Pegida-Ereignis in Dresden 2015
naturmetaphorisch als Vulkanausbruch dargestellt, der Druck sei so hoch
gewesen, dass der Unmut als Magma sich auf den Straßen Bahn brach. Eine solche metaphorische
Beschreibung politischer Ereignisse hat doch wahrhaft aufklärerische Funktion! Diese
Beschreibung mit dem Autor Tellkamp zu identifizieren, verbietet jedoch das
hermeneutische Ethos, zwischen den Aussagen von Figuren eines Textes und seinem
Autor zu unterscheiden. Aber im Text ist weit und breit keine Gegenstimme zu
diesem provokanten naturmystischen Mumpitz zu finden. Oder soll man sich das
aufberstende Dresden einfach nur als Bild vorstellen? Aus dem Krater der Stadt
drängt das aufgebrachte Volk heraus, um sich in die Straßenschluchten zu
ergießen und agitierend seinen Unmut zu kühlen. Welcher malende Vertreter der neueren
Sächsischen Romantik nimmt sich dieses coolen Motivs an? Ich weiß jedenfalls
nicht, welche Prägung man erfahren haben muss, um die Sprache eines solchen
Bildes für weiterführend im Verständnis politischer Zusammenhänge zu halten.
Die
Gespräche in diesem Kunstlaboratorium sind natürlich nicht immer auf oberstem
Niveau und ihre Themen auch nicht immer besonders originell. Das ist
sympathisch und realistisch. Fabian/Tellkamp gibt relativ ungeschützt Auskunft
und auch der nur notdürftig mit dem Namen Rahe kaschierte Neo Rauch oder die
als Nina Schmücke vorgestellte Rosa Loy haben offenbar nichts dagegen, mit
ihren Entäußerungen dem Essayisten für seine zwischen Dichtung und Wahrheit
angesiedelte Erzählung Modell zu stehen. Zwar hat Fabian durchaus den Eindruck,
er sei ein Vampir am Hals von Rahe: „und doch nutze ich die Gelegenheit aus,
sauge mich mit Eindrücken voll, als wollte ich ihn berauben…“(S. 26), doch
diese Selbstreflektion seines Tuns gehört zum kokettierenden Umgang eines Autors
mit einer solchen Situation und hat keine weitere Konsequenz.
So etwa
vergleichen die beiden, natürlich mit leicht albernem Anstrich, im Rahmen eines
kleinen Männerspiels ihre Armbanduhren. (S.45) Rahe trägt eine geschenkte
Tissot und Fabian nennt eine Glashütte Senator Navigator sein Eigen. Die wirklich
wichtige Botschaft dieses erzählten Uhrenvergleichs besteht darin, dass der
Icherzähler ein Produkt der eigenständigen sächsischen Uhrmacherkunst seit 1845
trägt und damit auch als weltmännischer Uhrenträger seine sächsische Identität inszeniert.
Unmittelbar
im Anschluss an diese Episode folgt der Satz: “Unvermittelt erzählt Rahe von
Leos Problemen mit dem Trubel um seine berühmten Eltern, vor allem den Vater.“ Rauchs
Namen durch Rahe zu verfremden und dann unverfremdet den Namen des Sohnes in
Kurzform zu nennen, um die Existenz seiner Probleme mit dem Trubel um seine
berühmten Eltern zu veröffentlichen, das zeugt von Einfühlungsvermögen und Diskretion.
Da der Icherzähler seinen Vampirismus reflektiert hat, darf er ihm jetzt
schamlos frönen. Dass Rahe „unvermittelt“ darauf zu sprechen kommt, ist ein
Zeichen, dass ihn diese Probleme des Sohnes untergründig und dauerhaft beschäftigen.
Er macht sich Sorgen.
Der Essayist
weiß den Diskurs seines Modells einzuordnen: „der Expressionismus scheint Rahes
sprachlich-gedankliche Heimat zu sein, man merkt es seinen Briefen und mündlich
seiner Wortwahl an.“ (S.19) Aha, der Icherzähler steht mit dem Künstler zudem
in einem regen Briefkontakt. So ganz nebenbei dokumentiert er, insofern er Rahe
zum Gegenstand seiner Reflexion macht, seine intellektuelle Souveränität und zugleich
seinen besonderen Zugang zum erfolgreichen und umschwärmten Maler, sein
Insidertum. (Vgl. S.26) Er hat’s nötig.
Zum Schluss:
„Vor dem Mittagessen schießen wir mit Luftdruckpistole auf Zielscheiben, denen
Rahe die Gesichtszüge seiner Lieblingsfeinde gegeben hat.“ (S.66) Rahes
Galerist Carl Bunke, mit Wesenszügen des Galeristen Judy Lybke ausgestattet,
und der Icherzähler vertreiben sich mit dem Maler zusammen die Zeit bis zum
Essen nach dem Motto „deine Feinde sind auch meine Feinde“: Gruppenkonstitution.
Diesmal bleibt der Chronist (leider) tatsächlich diskret und nennt sie nicht. Der
sublimierende Umgang mit den Feinden als Leistung der Zivilisierung ist aber
insofern interessant, weil es offenbar die Feinde sind, die in ihrem
Gegenentwurf den Schützen überhaupt die Energie für ihre Selbstkonstitution
geben, zur eigenen Identitätsbildung permanent provozieren, nach dem von Carl
Schmitt abgewandelten Descartes-Motto: „Ich denke, also habe ich Feinde, ich
habe Feinde, also bin ich.“ (handschriftliche Widmung Carl Schmitts vom
26.10.1952 in einem Buchgeschenk an M. O., im persönlichen Besitz)
Wenn Feinde anthropologisch
derart konstitutiv für den gesellschaftlichen Umgang und die Identitätsbildung sind,
so dass man an ihnen lieber festhält, um weiterhin der zu bleiben, als den man
sich liebt, wie kann es unter diesen Umständen überhaupt zu einer Überwindung
der Feindschaft kommen? Erschießen ist in Wirklichkeit ja keine Lösung. Wie
wird Feindschaft eingehegt, wie lässt sie sich in eine Gegnerschaft verwandeln,
die sich in gegenseitiger Anerkennung wenigstens austauscht. Wie erkenne ich
den anderen in mir selbst? Wie lassen sich Ressentiments abbauen? Alles Fragen,
mit denen sich die Beteiligten der ideologischen Auseinandersetzungen zwischen
Ost und West, Links und Rechts unbedingt beschäftigen müssen, wenn sie im
offiziell seit dreißig Jahren vereinten Land auch tatsächlich Annäherung und
Austausch schaffen wollen. Neo Rauch hat
erzählt, dass er seinen radikalen Kritiker Wolfgang Ullrich noch nie näher
getroffen habe, obwohl sie beide in Leipzig leben. Ullrich habe nie einen
persönlichen Austausch mit ihm gesucht, wo er doch schon so häufig über ihn
geschrieben habe.
Verständnis für
einander ergibt sich jedenfalls nicht von selbst und auch nicht von außen oder
aus der Ferne, es muss andauernd in Gesprächen gesucht werden. Das gilt auch
für Assheuer und Tellkamp. Aber ohne
Wohlwollen wird das nichts, und Formen der Höflichkeit und Anerkennung wären
dabei unbedingt zu befolgen. Man muss ja nicht gleich Freundschaft schließen.
Olaf Haas im Mai 2020 Copyright: flaschenpoesie.de
Wolfgang Ullrich und die westdeutsche Kolonialisierung ostdeutscher Kunst und Literatur durch Kritik von links Denunziation oder Erkenntnis?
Mit der Konzentration auf das Ost-West-Motiv als
Erklärungsmodell für die Auseinandersetzung mit Neo Rauch verstellt sich
Wolfgang Ullrich in seinem Bericht Feindbild werden einmal mehr die
Einsicht in das, womit er sich den Titel des Anbräuners verdient hat.
Die Urszene ist doch folgende: ein Kritiker beurteilt Äußerungen eines Malers
aus inadäquater Position. Kunstreligion und Autonomie der Kunst als irrationale
Ausgeburten reflektierend, wird dem Anspruch des Malers auf den Zauber der Welt
und auf seine Verbindung zu den tieferen Quellen der Imagination als
Produktionsbedingung seiner Bilder grundsätzlich - und für ihn provokativ - die Anerkennung
versagt. Hauptsache, der Kunstkritiker, Kunsthistoriker, Kunstsoziologe wird
dem ideologiekritischen Kanon seines wissenschaftlichen Selbstverständnisses
gerecht und kann das Objekt seiner Beschreibung erneut auf die rechte Scholle
setzen!
Von bildungsbürgerlichen Kunstfreunden der Malerei Neo
Rauchs wird Ullrich, wie er berichtet (S.129), als zu wenig kunstfrommer
Kritiker wahrgenommen. Tatsächlich wird er nicht müde, die Traditionsreste
kunstreligiöser Verehrung und kunstreligiöse Topoi überall aufzuspüren und als
metaphysische Überhöhung zu entlarven. Linke Ideologiekritik als Dauerattitüde
zeichnet seinen Blick auf die Kunstwelt aus. Die romantische Selbstverortung
Neo Rauchs und seine Behauptung künstlerischer Autonomie sind ihm von daher
grundsätzlich verdächtig. Allein schon die Malerei Rauchs mit ihren Sujets geht
ihm wahrscheinlich gegen den Strich. Weil sie aber so erfolgreich ist, kann er
sie ernstgenommen nicht grundsätzlich kritisieren und weicht deshalb auf das
politische Feld aus.
Die Aufgabe des kritischen Lesers von Ullrichs Bericht
besteht darin, das, was er schreibt, auf seine allgemein geteilte moralische
Haltung zurückzuführen. Denn auf der Basis dieser Haltung ist die
Herangehensweise an Rauchs Malerei und Selbstinszenierung inadäquat. Der
Traditionsraum in dem Neo Rauch sich verortet fühlt, aus dem er sein
künstlerisches Schaffen hervorkommen sieht, ist Ullrich aus Gründen seiner
kunsttheoretischen Setzungen von vornherein verschlossen. Diese individuellen
Setzungen als Bedingungen der Beurteilung auch von Rauchs Kunst nicht zu
erhellen, macht Ullrichs Verfahren selbst ideologisch. Im Versäumnis dieser
Reflexion erscheinen Ullrichs Positionen deshalb auch so allgemeingültig und
absolut. Dadurch entsteht nicht nur bei Rauch der Eindruck von Denunziation auf
dem Forum der bürgerlichen Öffentlichkeit.
In einem Gespräch zur Präsentation seines Buches (Deutschlandfunk
Kultur, 16.10.2020) meint Ullrich allen Ernstes: „es geht nicht etwa um einen
persönlichen Streit.“ Er habe Rauch persönlich nie getroffen. Auch wenn diese
Auseinandersetzung persönlich anmute, sei sie „keine private Fehde“, sondern er
habe „nüchtern“ etwas Allgemeines herausarbeiten wollen, „das etwas über die
Gesellschaft verrät.“ Diese Auffassung
aus der Perspektive Rauchs betrachtet, lässt sich als Ausdruck schlechten
Benehmens und großer Unhöflichkeit verstehen. Neo Rauch, der in seinen Bildern
und sprachlichen Äußerungen lebt und zu Hause ist, wird von Ullrich durchgehend
als mortifizierte Marionette des Allgemeinen behandelt. In seiner
sekundärliterarischen Existenz ist sich Ullrich der Unverschämtheit dieser Art von
Annäherung überhaupt nicht bewusst und scheint immer noch keine Ahnung zu
haben, wofür er sich die Bild gewordene „wohlverdiente Ohrfeige“ (Rauch) wirklich
eingefangen hat.
Ullrich nimmt die denunzierende Dimension seines Diskurses
nicht wahr, weil er glaubt, dass ihn sorgfältiges Recherchieren,
professionelles Zitieren und wissenschaftliches Analysieren (S.114) davor
schützen. Diese Dimension ist keine Erfindung von rechts, sondern verdankt sich
dem aus diesem Vorgehen abgeleiteten hohen Wahrheitsanspruch im Urteil, der, in
seiner Unbedingtheit formuliert, Rauch
und anderen nicht ganz zu Unrecht als Androhung der Exkommunikation durch die linke
Mehrheitsgesellschaft erscheinen kann. Wolfgang Ullrich ist von Berufs wegen
ein kritischer Entzauberer, Neo Rauch seiner Berufung nach ein malender
Verzauberer. Herr Ullrich sollte das eigentlich sehen und reflexiv einholen, um
überhaupt angemessene und rettende Kritik formulieren zu können. Stattdessen
liefert er mit seinem Bericht einen hermeneutischen Overkill voller kluger
Spekulationen, Projektionen und permanenter Einwandvorwegnahmen, der spiegelfechtend
Neo Rauch erneut völlig verfehlt.
Olaf Haas (November 2020) copyright: flaschenpoesie.de
Sag mir, wo du stehst!
Vom Deutschlandradio (7.11.20) zusammen mit Iris Radisch
(DIE ZEIT) eingeladen, um anlässlich der Kündigung Monika Marons durch den
Fischer-Verlag Streitkultur zu demonstrieren und über sie zu sprechen, hat sich
der freischaffende Kulturwissenschaftler und Kunstkritiker Wolfgang Ullrich
erneut als Spezialist für politisch-moralische Grenzziehung, Ausschließung und
Lagerbildung in Ostdeutschland präsentiert.
Frau Radisch ist geneigt, den Rausschmiss Marons durch den
Verlag nach 39 Jahren der Zugehörigkeit als unverhältnismäßig zu bewerten, weil
Maron sich lediglich und keinesfalls abschließend in „falsche“ politische und
literarische Gesellschaft begeben habe (“Kontaktschuld“). Im Gegensatz zur Reaktion des Verlages
plädiert Radisch in echt liberaler Tradition für die Aufrechterhaltung von über
Jahrzehnte gewachsenen Bindungen. Ihr ist es wichtiger, mit Frau Maron im
Rahmen etablierter Verhältnisse im kritischen, streitenden Gespräch zu bleiben,
als sie vom Hof zu jagen, weil sie schlechten Umgang hat. Und Radisch hält mit
Kritik berechtigterweise natürlich nicht zurück!
Der in anderen Zusammenhängen auch schon mal als „Blockwart“
charakterisierte Ullrich hingegen fragt ganz scheinheilig und logisch viel zu
simpel, warum Frau Maron konsequenterweise diesen Schritt der Kündigung nicht
selbst vollzogen habe. „Wieso hat sie es nicht selbst gemacht?“… „Reisende soll
man nicht aufhalten!“ Immerhin sei sie in die Edition des Buchhauses Loschwitz
ins „Exil“ gegangen, insofern habe der Fischer-Verlag Frau Maron nur
ernstgenommen und sie politisch-moralisch mit Recht gekündigt. Hört sich an wie
ein Rückfall in die Vaterrolle von vor 68: solange du deine Füße unter…, wenn
nicht…, dann hast du die Konsequenzen zu tragen. Ullrich kommt nicht auf die
Idee, dass der Verlag auch aus wirtschaftlichen Motiven so gehandelt haben
könnte, insofern er vorausschauend einem linken Shitstorm mit Konsequenzen für
die Verkaufszahlen seines Programms aus dem Weg geht. Frau Maron selbst ist für
den Verlag jedenfalls nicht systemrelevant, sonst wäre sie wahrscheinlich trotz
ihrer Eskapaden noch da.
Vermutlich kennt Herr Ullrich auch diesmal den „Gegenstand“
seiner Kritik nicht persönlich, Marons widerspenstige, unberechenbare, manchmal
kurzschlüssige individualistische Art, von der Frau Radisch zu berichten weiß.
Er hat auch in diesem Fall keinen Sensus für das Individuelle, keinen Begriff
von den spezifischen Irrungen und Wirrungen, die mit ostdeutschen Biographien
einhergehen können. Stattdessen plädiert er aus der Logik des Allgemeinen
einordnend für Lageraufteilung und Grenzziehung, spricht völlig abstrakt von
einer pluralen Gesellschaft, in der jeder Autor seinen ihm entsprechenden Verlag
finden könne: wie im Legoland. Indem er den Rausschmiss aus
politisch-moralischen Gründen befürwortet, zieht er den Grenzzaun und verstärkt
Spaltung.
Leider benennt Radisch im weiteren Verlauf der Debatte nicht
explizit die illiberalen Implikationen von Ullrichs Statement. Wenn der Wirt
meiner Stammkneipe mir Lokalverbot erteilt, weil ich öfter in einem anderen
Laden mit den falschen Typen abhänge, wo bleiben dann auf Dauer die Orte, an
denen ganz alltäglich noch Kontroversen und Annäherungen entstehen. Jeder sitzt dann in der ihm gemäßen Kneipe (Verlag,
Zeitung, Sender, Stadion) unter seinesgleichen im eigenen Saft: Abschottung! Mensch
Leute, lasst die Maron doch gelegentlich in der Loschwitzer Exildisko abrocken,
das gibt sich auch wieder.
Zum Ende des Gesprächs wendet sich die Moderatorin Miriam
Zeh zusammenfassend und fragend an Ullrich: „Herr Ullrich, Sie möchten die
Streitkultur erhalten, aber die verschiedenen Lager dann bitte aufgeteilt in
unterschiedliche Verlage?“ Der in
simplen Oppositionen und entsprechenden Schubladen denkende
Kulturwissenschaftler antwortet erwartungsgemäß: „In gewisser Weise ja, finde
ich das eine ehrliche und klare Sache…“ Frau Zeh hat in der Art der
Formulierung ihrer Abschlussfrage den Orientierungsrahmen von Herrn Ullrich genau
begriffen: Grenzen ziehen, Lagerbildung anmahnen und moralpolitisch Ordnung
schaffen: als Generalvertreter des linken und kaum noch liberalen
Establishments in Ostdeutschland und Autor mit besten Verbindungen zum mittlerweile
westdeutsch geprägten Neuen Deutschland.